Interview mit Dr. Christoph Kahlenberg, Dr. Christoph Kahlenberg, Manager Akademie & Arbeitsmarktprojekte bei Randstad Deutschland
Warum ist die berufliche (Weiter-)Bildung gerade heute so wichtig?
Die Transformationsprozesse in der Wirtschaft werden immer schneller, vordergründig dank der Digitalisierung. Das wirkt sich nicht nur auf Arbeitsweisen und Geschäftsmodelle aus, sondern auch auf berufliche Qualifikationen – denn die zunehmende Geschwindigkeit von Veränderungen erzeugt einen großen Anpassungs- und damit Lerndruck. Das heißt, die meisten Menschen werden in Zukunft mit ihrer ersten Ausbildung oder Studium nicht ausgelernt haben. Sie werden sich mithin im Laufe des Berufslebens neu erfinden, sodass Anpassungsfähigkeit und Lernbereitschaft künftig die wichtigsten beruflichen Fähigkeiten sein werden.
Kann Weiterbildung vor diesem Hintergrund einen Beitrag zu mehr Gerechtigkeit am Arbeitsplatz leisten?
Ja, das Potenzial ist sehr groß. Wichtig ist die Erkenntnis, dass sich formale Berufsabschlüsse durch die digitale Transformation im Laufe der Zeit relativieren. Einfach ausgedrückt: Mein Abschluss ist in diesem Zeitalter wahrscheinlich schon nach zehn Jahren überholt, wenn nicht sogar nach fünf oder noch weniger. Was aber zunächst nach einer großen Ungerechtigkeit klingt, ist in Wahrheit eine einzigartige Gelegenheit, mehr Gerechtigkeit und Vielfalt am Arbeitsplatz zu schaffen
Wenn jemand nach der Schule einen Beruf erlernt oder studiert hat, kann diese Person nicht davon ausgehen, dass die benötigten Fähigkeiten und Skills dieselben bleiben, selbst für das gleiche Berufsbild. Wenn die Menschen Neues lernen müssen, eröffnet sich für sie die Chance, Wissen und Handfertigkeiten zu erwerben, die ihnen früher nicht vermittelt wurden. Das ist umso wichtiger, weil das Bildungssystem in Deutschland leider nach wie vor ungerecht ist. An vielen Stellen bestimmt immer noch die soziale Herkunft, wer welchen Bildungsabschluss erlangen kann.
Aber: Durch die Umbrüche am Arbeitsmarkt könnten sich diese Nachteile ein Stück weit ausgleichen, indem Menschen im Laufe ihres Berufslebens die Chance bekommen, neue Fähigkeiten zu erwerben. Voraussetzung ist, dass Arbeitgeber Weiterbildungsangebote bereitstellen. Insbesondere die technischen und Handwerksberufe können davon profitieren.
Was müssen Unternehmen tun, um entsprechende Bildungsangebote zu schaffen?
Wichtig ist, sich die notwendigen Rahmenbedingungen bewusst zu machen. Weiterbildungsangebote ohne System reichen nicht mehr aus. Vielmehr müssen Unternehmen und Betriebe einen passenden strategischen Rahmen, der sowohl die Bedürfnisse der Mitarbeitenden als auch die langfristigen Ziele des Unternehmens in den Blick nimmt, und Raum für lebenslanges Lernen schaffen, und zwar für alle Generationen. Vor allem in einer alternden Gesellschaft muss die Botschaft sein, dass Alter keine Hürde für den Erwerb neuer Qualifikationen ist.
Das Stichwort dabei lautet: Lernkultur. Unternehmen mit Lernkulturen fördern die Weiterbildung proaktiv. Dies setzt allerdings voraus, dass sie am Puls der Zeit sind und die neuesten Entwicklungen im eigenen und in verwandten Geschäftsbereichen im Blick behalten. Betriebe mit vorhandener Lernkultur nehmen das Lernen als Wettbewerbsvorteil und Faktor der Mitarbeiterbindung wahr und nicht als finanzielle oder organisatorische Last, die das Tagesgeschäft oder Unternehmenszahlen belastet.
Was heißt „Lernkultur“ konkret?
Zum einen die kontinuierliche Ermittlung des Bedarfs in der Belegschaft. Die Mitarbeiter werden regelmäßig befragt, welche Weiterbildung sie sich wünschen, und die entsprechenden Angebote werden auch bereitgestellt, inklusive Freistellungsmöglichkeiten. Jedoch führen heute diverse Entwicklungen, die auch noch sehr schnell sind, dazu, dass weder Unternehmen noch die Mitarbeitenden selbst immer wissen, worin sie sich am besten weiterbilden sollen. Und in der Praxis stecken zu viele Unternehmen im Tagesgeschäft, weshalb sie die Menschen gar nicht freistellen können oder wollen.
Das ist an sich verständlich, aber in einer Welt, in der neue Wertschöpfungsquellen fast täglich erschaffen werden und auf den Markt kommen, gefährdet diese Haltung die eigene unternehmerische Existenz. Um mit der Transformation mitzuhalten, müssen Betriebe also die Weiterbildung in ihr Geschäftsmodell langfristig einpreisen – also die nicht erbrachte Leistung, die durch Teilnahme an Weiterbildungskursen verursacht wird. Nur so können sie sicherstellen, dass sie die Fähigkeiten haben, die neuesten Innovationen auszuschöpfen und gewinnbringende Arbeitsweisen bei sich zu etablieren.
Welche Möglichkeiten haben Unternehmen für externe Unterstützung in diesem Kontext?
Viele! Wir haben in Deutschland eine sehr breite und sehr bunte Bildungsträgerlandschaft, die bei der Aufstellung einer Lernkultur und Bereitstellung passender Angebote umfassend unterstützt. Die Auseinandersetzung damit kann allerdings auch überfordern, insbesondere kleine und mittelständische Betriebe (KMU).
Es gibt aber auch kostenlose, staatlich geförderte Angebote, deren Grundlage das Qualifizierungs- und Chancengesetz bildet. Die Bundesagentur für Arbeit (BfA) stellt beispielsweise eine Qualifizierungsberatung bereit, die Unternehmen bei der eigenständigen Planung und Organisation einer systematischen und nachhaltigen Personalentwicklungsstrategie unter die Arme greift. Diese Beratung beinhaltet unter anderem eine Bildungsbedarfsanalyse und umfassende Qualifizierungsplanung. Zudem können sich Unternehmen in bestimmten Fällen die Kosten für Fortbildungen durch den Arbeitsentgeltzuschuss erstatten lassen.
Auch Personaldienstleister wie Randstad sind gute Ansprechpartner, wenn es darum geht, Weiterbildungsangebote zu vermitteln und zu gestalten. Wir können Bildungsprojekte organisieren und durchführen. Und da wir bereits in verschiedenen Bildungs- und Qualifizierungsverbünden unterwegs sind, bieten wir auch bedarfsgerechte Beratung an.
Und wie können Unternehmen in diesem Zuge auch inklusives und barrierefreies Lernen gewährleisten?
Vor allem durch die Digitalisierung. Wenn Mitarbeiter von zu Hause aus oder zeitlich flexibel auf digitale Lernmodule zugreifen und diese abschließen können, dann bekommt wirklich jeder die Chance, sich neue Fähigkeiten anzueignen und entsprechend mehr zur Wertschöpfung im Unternehmen beizutragen. Wichtig ist, die Weiterbildung im Job anzubieten, um die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen fortwährend zu erhalten. Natürlich ist Weiterbildung auch im Zuge der Arbeitslosigkeit möglich, aber das Ziel sollte sein, dass die Menschen nie arbeitslos werden.
Spannend ist auch der Trend hin zu Gamification. Digitale Lernangebote werden zunehmend mit spielerischen Elementen verbunden, sodass sie insbesondere jüngere Menschen erreichen, die heutzutage selbst sehr viel Zeit in digitalen Spielen verbringen. Damit könnten Unternehmen insbesondere die Gen Z oder Gen Alpha besser ansprechen, aber auch insgesamt mehr Leute für Weiterbildung begeistern. Was Spaß macht, kommt immer besser an als die Alternative. Aber auch hier gilt: Bedarf ermitteln und die Angebote dementsprechend bereitstellen. Und digitale Angebote haben auch ihre Grenzen – denn Menschen sind soziale Wesen und lernen oft am besten miteinander. Es macht oft mehr aus, wenn wir Angesicht zu Angesicht agieren, als am Bildschirm.
Welche Stolpersteine gibt es bei der Gestaltung von Weiterbildung?
Große Unternehmen haben Weiterbildungsthemen stärker auf dem Schirm als KMU. Das ist einerseits eine Ressourcenfrage, andererseits wollen sich viele Unternehmen im Mittelstand damit gar nicht auseinandersetzen, weil sie zumindest aktuell noch mit ihren bestehenden Geschäftsmodellen erfolgreich sind. Doch der Fachkräftemangel ist bereits überall zu spüren. Unternehmen und Arbeitnehmende, die keine Anpassungsfähigkeit zeigen, werden am Markt nicht bestehen.
Viele unterschätzen die Tatsache, dass viele Berufe heute zwar noch den gleichen Namen tragen, aber insgesamt viel anspruchsvoller geworden sind. Der Heizungsmonteur muss heute beispielsweise nicht nur Gas- und Ölheizungen installieren können, sondern sich mit den Themen Wärmepumpe und Solarthermie auseinandersetzen. Die meisten können das und passen sich an, dennoch braucht es Zeit und Ressourcen. Und diesbezüglich ist auch die Schulbildung in der Pflicht, jungen Menschen die Fähigkeiten für ein dynamisches und wechselhaftes Leben beizubringen, was leider weiterhin öfters nicht gelingt.
Das heißt, ein Teil des Problems ist strukturell?
Ja, das kann man so sagen. Das Problem, dass viele Schulabgänger nicht die Ausbildungsreife besitzen, die heutzutage auf dem Arbeitsmarkt benötigt wird, ist generell da. Das beginnt mit digitalen Kompetenzen, womit sich das Bildungssystem in Deutschland generell schwertut. Mit der Bereitstellung von Tablets für den Schulunterricht ist das Thema noch längst nicht erledigt.
Digitale Kompetenzen sind heute eine Grundfertigkeit, die bereits frühkindlich vermittelt werden muss. Und das ist Teil des staatlichen Bildungsauftrags. Unternehmen stellen sich aber schon heute darauf ein, die Lücken im Schulsystem durch eigene Aus- und Fortbildungsangebote zu füllen. Allerdings sollte das nicht Aufgabe der Wirtschaft sein. Rechnen, Lesen und Schreiben, ob analog und digital, erst recht nicht.
Letzte Frage: Gibt es ein konkretes Beispiel für ein gelungenes Weiterbildungsprojekt bei Randstad?
Das habe ich. Wir hatten bei uns einen Kandidaten mit Schwerbehinderung, der bereits über eine berufliche Qualifikation verfügte, aber aufgrund seiner körperlichen Einschränkung Schwierigkeiten hatte, einen passenden Arbeitsplatz zu finden. Deshalb arbeitete er zunächst als Paketzusteller. Durch individuelles Einzelcoaching über unsere Randstad Akademie und staatliche Förderung konnte er eine Umschulung bei uns beginnen. Dank seines Engagements und der kontinuierlichen Betreuung durch seinen Randstad Trainer ließ er sich zum Fachinformatiker weiterbilden und arbeitet heute in diesem Bereich. Es gibt wahrscheinlich kein besseres Beispiel dafür, wie Weiterbildung mehr Gerechtigkeit in der Arbeitswelt schaffen kann.
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